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Onne hatte ihr wunderbarerweise vom ersten Augenblick an Vertrauen eingeflößt, und die Zuneigung war im Laufe der Jahre zu einer großen Liebe geworden. Onne verstand das einsame und scheinbar verwilderte Kind, dem niemand Liebe erwies, denn Gerom verbarg sein Herz bis zur Schwermut.

Onne schaute vor sich hin, ihre grauweißen Haarsträhnen zogen sich arm an den faltigen Schläfen hin und an den hohlen Wangen nieder, die die Farbe welken Laubs hatten und unzählige Fältchen und Risse. »Geromsagte sie, »das ist wohl wahr, aber wer die Kraft hat, die Natur zu ertragen, dem kommt keine Gefahr mehr von den Menschen

Sie kannte diesen beinahe verschlafenen Zug um die Augen herum und das leicht getrübte Blau der Augen selbst, deren Blicke solange anteillos erscheinen konnten, bis jählings die aufflammende Leidenschaft sie weckte. Onne wußte wohl, wie leer das Herz und wie taub das Blut hinter den klaren wohlbestellten Augen sein kann, deren sauberen Blick die meisten Menschen lieben.

»Hier steht essagte Onne, nahm es zurück, blätterte und versuchte dabei, ihrer Hornbrille Halt zu verschaffen, »hör zu, wie ich es lese: >Um das weiße Schloß flogen in der Abendsonne die Schwalben, es lag auf ebenem Gefilde, frei im weiten Land ...<« Sie stockte und gab ihren Gläsern Schuld. »Ich kann es nicht mehr recht herausbringen, aber du sollst sehn, du wirst es lernen

Wie Anje in der Einöde heranwuchs, wußte sich niemand recht zu erklären, hätte die alte Onne, die am Waldrand des Moors lebte, sich nicht zuweilen des Kindes angenommen, so wäre die kleine Menschenblüte vielleicht in der rauhen Traurigkeit verkümmert, in die Gerom sein düsteres Dasein hüllte.

Seine Übermüdung und seine Verzweiflung überwältigten ihn, und er fing an zu weinen, ohne daß sein Gesicht sich bewegte, seine Hände hingen herab. »Setz dich nieder ins Gras, Fridlin«, sagte Onne, als merkte sie nichts. Wer keine Tränen weinen kann, der fühlt sie oft bei anderen kommen, ehe sie das Auge benetzen.

Onne wußte, daß Menschen von selbständigen Kräften der Empfindung sich in ihrer Jugend nicht durch Beständigkeit oder Gleichmaß der Herzensregungen auszeichnen. Sie verstand Anjes Wildheit und die an Trauer grenzende Weichheit, mit der sie abwechselte, und liebte an dem kleinen Mädchen den hilflosen Unbestand der Empfänglichen.

Es war übrigens ungemein schwer, Onne zu verstehen, man brauchte sehr lange dazu, bis man es gelernt hatte, und da dann noch die Schwierigkeit hinzukam, das Verstandene auch begreifen zu müssen, so gehörten nur sehr wenige in Gorching oder im Dachenauischen zu diesen Erwählten.

»Onneflüsterte die kleine Anje; ihr war, als müßte sie Einhalt gebieten, was konnte nicht geschehn, wenn man sich so tief in die Truhe wagte, als es die Alte tat, die ihre beiden Hände bis auf den Grund der Schätze hinabgewühlt hatte. Da bog sich Onnes braunes Gesicht über den Truhenrand nach ihr zurück, und sie sah, daß es unter den grauen Strähnen lächelte. Das Kind atmete auf.

Er fühlte ihr Lächeln wie wärmendes Licht nahen, und ein inniger Glaube verwandelte sein Herz bis zur Glückseligkeit, er erhob sein Haupt und seine Augen befreiten Sinns, und aller Groll wich von ihm. Onne wurde nun in die Erde des Gorchinger Friedhofs gebettet.